Über dieses Publikationsprojekt

Forschungsvorhaben


Die wichtigsten Zentren einer deutsch-jüdischen Diaspora sind als einzelne Orte und teilweise auch in ihrer jeweiligen Entwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg gut erforscht. Eine Überblicksdarstellung zur deutsch-jüdischen Diaspora existiert bislang allerdings nicht. Das Forschungsvorhaben „Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora“ möchte diese Lücke schließen und auf Grundlage neuester Forschung erstmals eine Gesamtgeschichte vorlegen, die die verschiedenen historischen Phasen einer deutsch-jüdischen Diaspora in den Blick nimmt. Ihre jeweiligen Ausgangspunkte, Kontinuitäten und Brüche sollen darin das erste Mal systematisch herausgearbeitet werden.

Mit dieser Zielsetzung wird seit 2023 das hybride Publikationsprojekt „Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora“ realisiert. Als ein Forschungsvorhaben der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts (LBI) ist es unter Federführung von Prof. Dr. Miriam Rürup als ihrer Vorsitzenden am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam angesiedelt. Das Projekt ist auf zwei unterschiedlichen, sich einander ergänzenden Publikationsebenen angelegt: Einerseits sieht es einen Sammelband zur Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora vor, andererseits ein digitales Quellenportal.

Die projektierte Printpublikation versteht sich dabei als Fortsetzung der so renommierten wie erfolgreichen Serie von Überblicksdarstellungen des LBI, die bislang – zwischen 1996 und 2012 – in fünf Bänden erschienen ist (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, C. H. Beck München). Während die Vorgängerbände jüdisches Leben innerhalb der deutschen Staaten thematisierten, soll nun ein Standardwerk für die deutsch-jüdische Geschichte außerhalb des deutschsprachigen Raums vorgelegt werden. Dazu werden die Migrationsbewegungen von Jüdinnen und Juden in den Blick genommen, die einem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehörten und diesen v.a. im Zuge der 1930er Jahre in größerer Zahl verlassen mussten.

Neben dem Sammelband wird ein digitales Quellenportal ins Leben gerufen, das einer interessierten Öffentlichkeit weitere Orte der deutsch-jüdischen Emigration und des Exils jenseits des etablierten historiografischen Schwerpunkts ins Bewusstsein rufen soll. In den Fokus treten dadurch die Lebensrealitäten emigrierter sowie exilierter Jüdinnen und Juden, die sich ab den 1840er Jahren permanent oder zeitweise in rund 90 (Transit)Ländern – von A wie Argentinien bis Z wie Zypern – eine neue Existenz aufbauten. Die deutsch-jüdische Diaspora soll über die Website als ein transnationales Netzwerk sichtbar werden, das durch dynamische Beziehungen über einzelne Zuwanderungsorte hinaus sowie durch Rückbezüge und Remigration(en) geprägt war. Um ihre Vielseitigkeit im historischen Verlauf bzw. die einzelnen Migrationsbewegungen deutschsprachiger Jüdinnen und Juden zu illustrieren, sollen (interaktive) Karten eine zentrale Rolle spielen.

Das hybride Forschungsvorhaben, dessen digitale Inhalte über ein herkömmliches „Denken in Druckseiten“ hinausgehen, möchte letztlich Synergien schaffen. So werden sich beide Publikationsformen einander ergänzend dem zeiträumlich weitgefassten Thema einer deutsch-jüdischen Diaspora widmen. Im Sammelband platzierte QR-Codes etwa, die einen direkten Zugang zum Online-Quellenportal ermöglichen, sollen dabei unmittelbar wie ein Scharnier wirken.

Zielgruppe


Das Online-Quellenportal richtet sich in erster Linie an Studierende, Forschende und Lehrende, aber auch an Schülerinnen und Schüler sowie an interessierte Laien. Dem Sujet einer deutsch-jüdischen Diaspora und ihren transnationalen Netzwerken entsprechend ist die Website mehrsprachig angelegt. Um möglichst viele Besucher*innen zu erreichen, soll sie auf Deutsch und Englisch, idealerweise auch auf Spanisch, ausgespielt werden. Ein barrierefreies, inklusives Webdesign soll die Usability und Accessibility darüber hinaus noch erhöhen.

Das Portal ist zudem als ein Ort der Vernetzung gedacht. Wie verzweigt sich das deutsch-jüdische Kulturerbe in der Diaspora gestaltete und wie es dort heute erinnert und bewahrt wird, soll anhand einer institutionellen Übersicht mit weiterführenden Links veranschaulicht werden. Ein solches Verzeichnis – bildlich imaginiert als ein „Diaspora-Baum“ – umfasst diverse Archive, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Museen, die sich dem Thema in ihrem jeweiligen nationalen Kontext widmen. Mit seinen vielen Verästelungen soll der Baum ein virtuelles Netzwerk schaffen, mit dem das Wissen um Archiv- und Sammlungsbestände gebündelt und im besten Fall weitere Forschungen zur Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora angestoßen werden.

Neben einer historischen Rekonstruktion und Präsentation sollen das Forschen, Lernen und Sichtbarmachen in einem wachsenden digitalen Lern- und Erinnerungsraum miteinander verknüpft werden. Das Online-Portal eignet sich mit seinen interaktiven Karten, der digitalen Präsentation individueller Lebenswege und institutioneller Ausdrucksformen der deutsch-jüdischen Diaspora ideal für den Schulunterricht und die außerschulische Bildung. Vor allem die Lebenswege einzelner Jüdinnen und Juden bieten einen persönlicheren Einblick in die verschiedenen historischen, sozialen und politischen Gründe einer Emigration, während sie gleichzeitig ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu den existenziellen Beschwerlichkeiten und Herausforderungen, der Grenzüberquerung und des Neuanfangs im Exil anregen. Vor diesem Hintergrund ist vorgesehen, das Online-Quellenportal auch in die Bildungsarbeit des Moses Mendelssohn Zentrums miteinzubeziehen.

Redaktionsmodell


Das Online-Quellenportal „Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora“ ist ein digitales Gemeinschaftsprojekt. Zwar werden die redaktionelle Betreuung und Koordination sowie die technische Umsetzung am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien realisiert. Allerdings wird das Projekt maßgeblich von mehreren Herausgeber*innen und Autor*innen mitgestaltet, deren Textbeiträge das Portal kontinuierlich anreichern und wachsen lassen.

Für das Quellenportal sind insgesamt drei Textebenen vorgesehen, die durch gezielte Querverbindungen miteinander in Beziehung gesetzt werden:

Erstens Einführungstexte, die sich den jeweiligen Regionen einer deutsch-jüdischen Zuwanderung (Bsp. Europa, Lateinamerika) widmen. Weitere Überblickstexte zu einzelnen Ländern einer Region bilden den zweiten Strang, der den unterschiedlichen nationalen Entwicklungen im Einzelnen Rechnung trägt. Hier sollen zudem einzelne Städte oder Gemeinden beleuchtet werden, um die Entwicklung der deutsch-jüdischen Diaspora nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch im Lokalen zu thematisieren.
Den dritten Strang dieser Textebene bilden neben Zielorten schließlich einzelne Personen, denen in Einzel- und Gruppenbiografien Raum gegeben werden soll. Die individuellen Lebensgeschichten der Betroffenen treten so in den Vordergrund, wodurch die deutsch-jüdische Diaspora gewissermaßen ein Gesicht bekommt. Mit diesem biografischen Zugang soll einer „Entpersönlichung“ der Exil- und Migrationsthematik entgegengetreten werden, die sich in den Medien des Globalen Nordens gegenwärtig als dominant erweist.

Zweitens werden Quellen für sogenannte Tiefenbohrungen herangezogen, die als Text-, Bild-, Ton- oder audiovisuelle Dokumente, aber auch als dreidimensionale Objekte, einzelne Themenfelder exemplarisch beleuchten und vergegenständlichen. Gemäß den editionstechnischen Grundsätzen für eine erschließende Wiedergabe historischer Quellen wird dieses heterogene Material durch eine Quellenbeschreibung textlich aufbereitet. Sie ergänzt neben einer Transkription ein digitales Faksimile.

Schließlich und drittens soll ein Interpretationstext die Quelle in ihrem Entstehungs- und Gebrauchskontext verorten, wobei alternative Interpretationsmöglichkeiten und offene Fragen zu berücksichtigen bleiben.

Die Herausgeberinnern und Herausgeber verfassen die Überblickstexte zu einzelnen Regionen und schlagen historische Akteur*innen und Quellen für ihr Themenfeld vor. Zusammen mit der Redaktion werben sie hierfür Texte ein. Alle eingereichten Beiträge (Einführungstexte, Quellenbeschreibungen und -interpretationen) durchlaufen mindestens ein zweistufiges Begutachtungsverfahren: Zunächst prüft die Projektredaktion die Texte, in einem zweiten Schritt begutachten sie die jeweiligen Herausgeberinnen und Herausgeber.

Die Überblickstexte werden ebenfalls zunächst von der Redaktion gesichtet, anschließend von allen anderen Herausgeberinnen und Herausgebern. Die überarbeiteten Texte werden dann erneut von der Redaktion begutachtet, bevor sie hinsichtlich der formalen Richtlinien überprüft und lektoriert werden.

Die Autorinnen und Autoren schreiben die Einführungstexte zu den einzelnen Ländern, Städten und Gemeinden sowie den historischen Akteur*innen. Ebenfalls von ihnen verfasst werden die Quellenbeschreibungen und -interpretation. Die Diskussion der inhaltlichen Ausrichtung der Überblicks- und Einführungstexte sowie der weiteren Beiträge soll in eigens organisierten Workshops erfolgen.

Dieses mehrstufige Begutachtungsverfahren und die enge Zusammenarbeit von Redaktion, Herausgeber*innen und Autor*innen sichern die hohe wissenschaftliche Qualität aller Beiträge. Neben der Begutachtung und dem Lektorat ist die Redaktion für die Koordination der Übersetzungen sowie die Beschaffung und anschließende Transkription und Auszeichnung der Quellen verantwortlich. Die Übersetzungen durchlaufen ebenfalls ein Begutachtungsverfahren und Lektorat.