Über deutsch(sprachig)-jüdische Diaspora - Einführung

Es gibt wenige Begriffe, die die jüdische Geschichtserfahrung so sehr prägen wie ,Diaspora‘. Seit dem sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, mit der Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem, kennzeichnen Flucht, Vertreibung und Heimatverlust, Mehrfach-Ortsbindungen und länderübergreifende Beziehungsgefüge die Geschichte, Religion, Tradition und Imagination von Jüdinnen und Juden. Neben Migration, die immer die Voraussetzung jeder Diasporagemeinde ist, stellt Diaspora, altgriechisch für ‚Verstreuung‘, den Kern jüdischer Erfahrung dar.

Das Diaspora-Portal widmet sich historischen Themen am Beispiel von Biografien und Zeitdokumenten, die den deutschsprachigen Lebenswelten zuzurechnen sind und ist nicht auf deutsche Jüdinnen und Juden beschränkt. Es geht entsprechend weniger um staatsbürgerliche Zugehörigkeit als vielmehr um eine in sich vielschichtige Kultur- und Sprachgemeinschaft, die eine gemeinsame deutschsprachige Herkunft als Ausgangspunkt hat. Der Versuch, Lebenswelten begrifflich zu fassen, läuft immer Gefahr, die Vielfalt sozialer Praxis enger zu beschreiben, als sie real gelebt wird. Auch die Zuschreibung ,jüdisch‘ ist nicht unproblematisch, da sich mehrere der hier behandelten Akteur:innen selbst nicht so definierten, sondern zuweilen erst durch die Verfolgung als ,Juden‘ zu Jüdinnen und Juden wurden.

In der deutsch-jüdischen Lebenswelt und Geschichtserfahrung ist die Frage zentral, was unter ,deutsch-jüdisch‘ zu verstehen sei. Historisch stritten jüdische Zeitgenoss:innen seit der jüdischen Aufklärung – Haskala – und dem Beginn der rechtlichen Gleichstellung im langen 19. Jahrhundert um die Frage der Zugehörigkeit als Deutsche und/oder Jüdinnen und Juden. Dabei führten sie das Begriffspaar ,deutsch-jüdisch‘ ein. Inzwischen wird der Begriff nicht im normativen Sinne, sondern einem kulturellen Verständnis folgend genutzt und könnte präziser auch als ,deutschsprachig-jüdisch‘ bezeichnet werden – der Lesbarkeit halber und an frühere Forschung anknüpfend nutzen wir hier dennoch zumeist ,deutsch-jüdisch‘. Ohnehin bleibt es eine Bindestrichkonstruktion, über die sich (bewusst) stolpern lässt. Damit wollen wir Raum schaffen für Differenzierung, Mehrfachzugehörigkeiten, Transnationalität und biografische Offenheit.

Das Diaspora-Portal ist in einem breiten geografischen Sinne angelegt und soll an die heterogene Gruppe Deutsch sprechender Jüdinnen und Juden erinnern. Ihre Herkunftsorte lassen sich so neben Deutschland unter anderem in Litauen, Österreich, der Slowakei, Tschechien oder Ungarn lokalisieren. Die Bedeutung der deutschen Sprache, die dort oft als eine sogenannte Aufstiegssprache im Sinne einer Verbürgerlichung galt, erwies sich dabei häufig als das beständigste Merkmal einer fortwährend sicht- bzw. hörbaren deutsch-jüdischen Herkunftsbiografie. In vielen Fällen entstanden diasporische Zusammenhänge gerade erst über die Sehnsucht nach dieser Sprachheimat.

Was bedeutet Diaspora?


,Diaspora‘ ist sowohl ein beschreibender als auch ein Forschungsbegriff. Als analytisch genutzter Begriff ist er geeignet, die Vielschichtigkeit, Dynamik und Komplexität der historischen Migrationsbewegungen und Beheimatungsprozesse deutschsprachiger Jüdinnen und Juden zu fassen. Diaspora kann dabei in zweierlei Richtungen gemeint sein: Zum einen bezieht sie sich auf eine Gruppe von Individuen gleicher ethnischer und/oder religiöser Zugehörigkeit, die sich gezwungen sieht, ihr Herkunftsland zu verlassen und die zugleich einen starken Rückbezug auf dessen Kultur und Erbe beibehält – teils über Generationen hinweg.

Zum anderen beinhaltet Diaspora eine räumliche Vorstellung, indem sie die Erfahrungswelten außerhalb eines Herkunftszentrums bezeichnet, in denen eine Gruppe von Individuen gleicher ethnischer und/oder religiöser Zugehörigkeit lebt, sich aber in ihrer Tradition und Erinnerung auf ein Zentrum zurückbezieht, das zu verlassen sie gezwungen war. In beiden Varianten setzt Diaspora die Migration und gemeinschaftliche Lebenssituation einer Gruppe voraus – sowohl in realem wie in einem imaginierten Zusammenhalt.

In der jüdischen Tradition bildet Eretz Israel, das sogenannte Land Israel, dieses bedeutungsvolle Zentrum, auf das auch in der religiösen Praxis immer wieder Bezug genommen wurde und das seit der Staatsgründung Israels eine neue Rolle in diesem Gefüge einnahm. Diaspora ist sowohl eine soziale und eine sich ständig wandelnde dynamische Praxis als auch ein sozialer und symbolischer Raum.

Das ursprünglich jüdische Verständnis von Diaspora, das mit den Worten galut oder tfutzot (Hebräisch für Exil, Zerstreuung) nach der Vertreibung aus dem alten Israel bezeichnet wird, ist dabei verbunden mit dem fortwährenden Streben nach einer Rückkehr nach Zion.

Am 14. Mai 1948 schien mit der Gründung des Staates Israel die Fortdauer einer ideell bedeutenden jüdischen Diaspora hinfällig geworden zu sein. Doch bestand auch weiterhin jüdisches Leben außerhalb der neuen Staatsgrenzen. Die Mehrheit aller Jüdinnen und Juden lebt auch heute nicht in Israel, sondern in den USA, sodass man mindestens von zwei geografischen Zentren sprechen muss. Und doch: Die Errichtung eines (alt)neuen und staatlichen territorialen Zentrums in Israel ließ die Frage laut werden, ob dadurch das Ende der jüdischen Diaspora – negativ als galut (Exil) konnotiert – erreicht sei.

Der altgriechische Begriff Diaspora (διασπορά), der so viel wie ,Verstreuung‘ bedeutet, ist selbst ein Produkt jüdischer Diasporagemeinden. Überliefert ist er das erste Mal in der sogenannten Septuaginta, der ältesten griechischen Übersetzung der Tora durch jüdische Gelehrte vor allem aus Alexandrien. Damals, vor mehr als 2200 Jahren, lebten die meisten Jüdinnen und Juden bereits außerhalb von Eretz Israel und der Begriff war – anders als in späteren Jahrhunderten – nicht negativ besetzt. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach unserer Zeitrechnung und der Vertreibung vieler Jüdinnen und Juden infolge der römischen Besatzung wurde Diaspora weithin angewandt. Der Begriff erfuhr eine negative (religiöse) Deutung, die in erster Linie mit Vertreibung, Versklavung und Zwang, mit Macht- und Heimatlosigkeit in Verbindung gebracht wurde.

Im 20. Jahrhundert erhielt noch vor der Staatsgründung Israels die jüdische Konnotation des Diasporabegriffes eine neue Wendung: Der im heutigen Belarus geborene Historiker Simon Dubnow (1860–1941) und andere jüdische Intellektuelle entwickelten die Idee eines ,Diaspora-Nationalismus‘ im Osten Europas, die zeigte, dass sie sich bewusst für ein nationales Programm in der Diaspora entschieden. Diese Idee erweiterte den Diaspora-Begriff um eine aktiv gestaltbare, politische Dimension und zeigt, dass jüdische Identität auch außerhalb eines staatlichen Zentrums bestehen kann. Diaspora wurde hier nicht mehr nur als Folge von Zerstreuung, sondern auch als Raum kultureller und sozialer Handlungsmöglichkeiten verstanden.

Der Begriff Diaspora hat in der Forschung verschiedene Bedeutungsebenen durchlaufen. Das gilt auch für die jüdische Geschichte und Historiografie. Denn nicht nur als beschreibender Begriff, sondern auch als Analysekategorie erlebt er seit den 1980er Jahren eine Konjunktur in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, nachdem Diaspora zuvor vorwiegend in einer jüdisch-religiösen und meist negativen Bedeutung als erzwungenes Exil verstanden worden ist. Auch wir wollen mit dem Konzept der Diaspora über galut und Exil hinausgehen und die konkreten sozialen Praktiken und dynamischen Gruppenbildungsprozesse der historischen Akteur:innen stärker in den Blick nehmen.

Der Historiker Steven M. Lowenstein (1945–2020) hat für die sich ab 1933 entstehenden Diasporagemeinden deutschsprachiger Jüdinnen und Juden den Begriff der deutsch-jüdischen Diaspora geprägt. Er selbst wurde in New York als Kind jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland geboren. Lowensteins Rede von einer „deutsch-jüdischen Diaspora“[1] in seinem Epilog zum vierten Band der Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit (1997) greifen wir dabei als Fortsetzungsprojekt dieser Geschichte in doppelter Weise programmatisch auf.

So werden wir erstens das Exil-Verständnis von Diaspora insofern weiten, als wir betrachten, wie jüdische Exilant:innen sich in ein gewissermaßen diasporisches Verhältnis zu ihren deutschen bzw. deutschsprachigen Herkunftsgemeinschaften setzten. Dabei geht es zweitens darum, inwiefern für diese Akteur:innen die deutsch(sprachig)-jüdische Kultur weiterhin eine Rolle spielte. Wir beschäftigen uns hier also auch mit dem kollektiven Fortleben eines deutsch-jüdischen Selbstverständnisses außerhalb des deutschsprachigen Raumes. Auch andere jüdische Gruppen haben in dieser Hinsicht eine gleichsam doppelte Diaspora ausgebildet. An dieser Stelle ist eine zweite Gruppe zu erwähnen, die eine doppelte Diaspora bildete – die sogenannten sephardischen Jüdinnen und Juden, deren Vergemeinschaftung und Rückbezug auf die Vertreibung von der iberischen Halbinsel 1492 aus Spanien und 1496 aus Portugal sich bis heute unter anderem in einer gemeinsamen Sprache (Ladino) und in religiösen Bräuchen zeigen.

In der Forschung zu diasporischen Minderheiten existieren verschiedene Definitionsvorschläge für diese Zuschreibung. Wiederkehrende Merkmale in allen Begriffsbestimmungen sind dabei in unterschiedlicher Weise:

Ein zeitlich scharf umrissener Anfangspunkt, meist einhergehend mit der Vertreibung einer großen Anzahl von Menschen oder ganzer Gemeinschaften bildet den Ursprung einer Diaspora. Durch die Ansiedlung dieser Gruppe außerhalb eines Herkunftslandes oder einer Herkunftsregion gibt er zugleich den örtlichen Rückbezug vor. Hinzu kommen die im Exilland dann aufrechterhaltenen oder sogar dort erst entstehenden Vergemeinschaftungspraktiken etwa in Form landsmannschaftlicher Organisierung, ein fortwährend spannungsreiches Verhältnis zum neuen Lebensumfeld sowie ein Rückbezug auf die ,verlorene Heimat‘. Mit ihm geht oft eine vage Sehnsucht nach der herkunftsgeprägten Vergangenheit einher, verbunden mit der Hoffnung auf eine Überwindung der schmerzlichen Vertreibung – und sei es auch nur in der Imagination.

Diese erste Überblicksdarstellung der deutsch-jüdischen Diaspora soll auf Grundlage bereits bestehender Forschungen und neuer Archivrecherchen untersuchen, welche historischen Umstände zur Entstehung einer deutsch-jüdischen Migration geführt haben und inwiefern deutschsprachige Jüdinnen und Juden versuchten, in den verschiedenen Zufluchtsländern ihre Herkunftskulturen und Zugehörigkeit(en) zu bewahren und diese zugleich in Form eines deutsch-jüdischen Kulturerbes zu sichern. Angesichts der daraus entstehenden hybriden, häufig fragmentierten Zugehörigkeiten interessiert uns besonders, inwieweit diese Gruppe gemeinsame Identitäten im jeweiligen Zielland ausbildete, die sich aus Distanz, Heimweh und Verlust, aber auch aus Nähe, Ankommen und Beheimatung speisten.

Über derartige Gruppenbildungsprozesse geraten die Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft und anderen Minderheiten (darunter auch jüdische Gruppen) in den Fokus. Sie waren häufig durch Spannungen gekennzeichnet, die die Institutionalisierung eigener Orte, Organisationen und Vertretungen beförderten. Neben einer solchen gruppenspezifischen Pluralität kultureller Zugehörigkeit lassen sich durch die Analysekategorie Diaspora aber auch länderübergreifende Netzwerke nachzeichnen. Die Beziehungen zwischen deutschsprachigen Jüdinnen und Juden, die sich über Kontinente hinweg als Teil einer großen (imaginierten) Gemeinschaft verstanden, eröffnen so eine weitere, überaus erkenntnisreiche Analyseebene. Sie ermöglicht in zweifacher Weise eine Transnationalisierung der deutsch-jüdischen Geschichte, indem sie auch die in den Herkunftsländern Verbliebenen in den Blick nimmt.

Dabei reflektieren wir den Diasporabegriff für jede Region mit signifikanter deutsch-jüdischer Einwanderung neu. Nicht immer entwickelte sich ein von Reminiszenz und Rückbezügen auf das Herkunftsland geprägtes Selbstverständnis. Auch mögliche Auflösungs- und Loslösungsprozesse werden adressiert. Ebenso sind Fragen der Rückkehr und der Remigration, etwa in einen der beiden deutschen Staaten, Thema dieses Projektes. Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg nur maximal fünf Prozent der ehemals rund 450.000 deutschsprachigen Jüdinnen und Juden in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, zeigen viele Beispiele, wie intensiv sich die Emigrierten im zeitlichen Verlauf mit dieser Möglichkeit beschäftigten und teils versuchsweise oder temporär in ihre Herkunftsorte zurückkehrten.[2]

Neben den politischen, gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen in den jeweiligen Zielorten werden die Möglichkeiten deutschsprachiger Jüdinnen und Juden und ihre jeweilige Teilhabe an den dortigen Umgebungsgesellschaften untersucht. Die Entstehung einer weit verstreuten deutsch-jüdischen Diaspora und ihre transterritorialen Bezüge thematisieren wir dabei ebenfalls.

Durch eine länderübergreifende Perspektive, die die deutsch-jüdische Geschichte außerhalb des deutschsprachigen Raums bedingt, können neue Facetten der jüdischen Erfahrung aufgezeigt und eine methodische Fixierung auf den Nationalstaat aufgelöst werden. Indem die deutsch-jüdische Diaspora unter Berücksichtigung ihrer Spezifika als Bestandteil globaler Migrationsbewegungen aufgefasst wird, die das 20. Jahrhundert und auch unsere Gegenwart prägen, lassen sich darüber hinaus thematische Anknüpfungspunkte zu den Diaspora- und (Global) Migration Studies herausarbeiten.

Das Thema der Diaspora ist auch heute unverändert aktuell. Viele Jüdinnen und Juden in der Diaspora, unter ihnen Nachkommen deutschsprachiger Geflüchteter, loten seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Gazakrieg ihre jüdische Identität mit Blick auf ihre familiären Herkunftsländer und Israel derzeit neu aus. Dieses Projekt greift die zentrale Bedeutung von Migration und Diaspora für die jüdische Geschichte auf und erkennt ihre Relevanz auch für gegenwärtige Entwicklungen. Ein wachsender Antisemitismus, der in der Vergangenheit als ein zentraler migrationsauslösender Faktor fungierte, trägt neben politischen Rahmenbedingungen wie dem Rechtsruck in der israelischen Politik und dem Krieg in der Ukraine dazu bei, dass Migrationsbewegungen zunehmen. Die Zahl aller Menschen, die aufgrund von Kriegen, Konflikten und Verfolgungen ihre Heimat verlassen mussten, erreichte 2024 einen historischen Höchststand. Migrationsbewegungen – vielfach unter Zwang – reichen somit tief in unsere Gegenwart hinein und neue, auch nichtjüdische diasporische Gemeinschaften entstehen in deren Folge.

Was heißt ,deutsch(sprachig)-jüdisch‘?


Das Begriffspaar ,deutsch-jüdisch‘ erinnert an die Idee einer kulturellen Symbiose im Deutschland des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 erschüttert und durch die Schoa zerstört wurde. Die politische Theoretikerin und Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) hat diese Problematik in ihrer Biografie Rahel Varnhagen (1938/1957) deutlich gemacht. Sie bezeichnete die Idee einer ,deutsch-jüdischen Symbiose‘ als Illusion und zeigte, wie die Anpassungsversuche jüdischer Bürger:innen im 19. Jahrhundert am fortdauernden Antisemitismus scheiterten. Für Arendt bot allein die gemeinsame Sprache eine kulturelle Kontinuität. Viele der auf dem Portal behandelten Personen verstanden sich nicht in erster Linie als ,Deutsche’, sondern als Teil einer mitteleuropäischen, kulturell vielfältigen Öffentlichkeit. ,Deutschsprachig‘ verweist auf diese intellektuelle Weite – zwischen Prag, Wien, Breslau (Wrocław) und darüber hinaus.

Im Kontext der diasporischen Lebensrealitäten, die das Diaspora-Portal dokumentiert, geht es deshalb weniger um eine nationale oder staatliche Zugehörigkeit, mit der sich viele spätere Emigrant:innen nach der Neuordnung Mitteleuropas nach Ende des Ersten Weltkriegs ohnehin nicht (mehr) identifizierten oder – nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und dem ,Anschluss‘ Österreichs – bewusst davon distanzierten. Für sie war die deutsche Sprache weniger Ausdruck nationaler Zugehörigkeit als vielmehr kulturelle Heimat. In der Diaspora wurden Sprache, Bildung, Religion und kulturelle Praxis zu Elementen der Identitätsbildung, wobei individuelle Erfahrungen und Perspektiven stark variierten. ‚Deutsch’ war häufig fester Bestandteil des Alltags – in Familie, Schule, religiösem und kulturellem Leben, zumindest in der ersten Generation. Oft wurde die Sprache über Generationen hinweg weitergegeben.

Überblickt man die deutschsprachige jüdische Diaspora, so war sie durch vielfältige biografische Hintergründe, Migrationserfahrungen und Selbstidentifikationen geprägt. Herkunftsorte wie Czernowitz (Cherniwtsi), Lemberg (Lwiw), Wien, Prag oder Breslau (Wrocław) zeigen, dass ,Deutsch’ oft eher kulturelle als nationale Zugehörigkeit bedeutete – ein Verständnis, das der Begriff ,deutschsprachig’ treffender wiedergibt. Lebenswege zwischen diesen Orten verdeutlichen die innereuropäischen Verflechtungen dieser vielfältigen Gemeinschaft – etwa in Form zahlreicher binationaler, oft auch deutschsprachiger Ehen, in denen sich manchmal auch sogenannte ost- und westjüdische Traditionen verbanden.

Eine besondere Erfahrung prägte deutschsprachige Jüdinnen und Juden im Mandatsgebiet Palästina und dem späteren Israel. Viele von ihnen aus Deutschland fanden dort ab 1933 Zuflucht, brachten – wie alle Einwanderungsgruppen – ihre Sprache und Kultur mit und prägten damit das dortige gesellschaftliche Leben. Die deutsche Sprache blieb dabei oft ein zentrales Element ihrer Identität, doch als ,Tätersprache‘ ging dies mit einer besonderen Haltung der Scham einher. Die mit der Umschreibung ,Jeckes’ bezeichneten deutschsprachigen Einwander:innen lebten mit der Erfahrung, dass andere jüdische Gruppen ihnen mit Skepsis und der sprichwörtlichen Frage begegneten, ob sie „aus zionistischer Überzeugung oder aus Deutschland“ kämen.

Wenn wir also von ,deutschsprachig-jüdisch‘ sprechen, wollen wir den Blick dafür schärfen, dass es auch sprachlich-kulturelle Zugehörigkeiten jenseits staatlicher Kategorien gab. Sprache funktionierte als kulturelle Heimat und das Begriffspaar deutschsprachig-jüdisch reflektiert die spezifische diasporische Erfahrung, die im Zentrum dieses Portals steht. Diese Erfahrung kann auch von Nachfahren geteilt werden, die weder die Sprache sprechen, noch sich selbst als jüdisch bezeichnen würden.

Wo entsteht deutsch-jüdische Diaspora? Räumlicher Rahmen


Das Diaspora-Portal ist den Lebenswelten deutschsprachiger Jüdinnen und Juden gewidmet, die sich vor allem ab 1933 in verschiedenen (Transit)Ländern – von A wie Argentinien bis Z wie Zypern – eine neue Existenz aufbauten. Die wichtigsten Zentren dieser deutsch-jüdischen Diaspora wie die USA oder Palästina/Israel sind als einzelne Orte und teils in ihrer jeweiligen Entwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg gut erforscht. Auch unbekanntere Destinationen wie Kenia, Shanghai, die Karibik oder die Philippinen sind zuletzt in erkenntnisreichen Einzelstudien analysiert worden. Eine vergleichende Darstellung dieser äußerst heterogenen Durchgangs- und Zielländer fehlt bislang allerdings. Mit dem Diaspora-Portal wollen wir die geografische Bandbreite der deutsch-jüdischen Zerstreuung möglichst zusammenhängend herausstellen und ein breites Panorama ihrer transnationalen Verwobenheit aufbereiten. Neben den klassischen Zielländern, in denen sich eine deutschsprachige jüdische Community langfristig etablieren konnte, berücksichtigen wir auch sogenannte Transitländer und damit vorübergehende Diasporastrukturen, etwa in Zwischenstationen wie Shanghai. Dort haben sich zeitweise ebenfalls spezifische Gruppenstrukturen herausgebildet, die als eine ,erinnerte Diaspora‘ auch dann noch im kollektiven Gedächtnis fortleben, wenn die Exilant:innen längst nicht mehr in den jeweiligen Zwischenstationen leben.

Die wichtigsten außereuropäischen Emigrationsländer deutschsprachiger Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus waren die USA, Großbritannien und das Mandatsgebiet Palästina. Von den rund 100 Ländern, in denen sie permanent oder zeitweise Zuflucht fanden, war zudem Argentinien von zentraler Bedeutung. Rund 75 Prozent der deutschsprachigen Jüdinnen und Juden ließen sich allein in diesen vier Diasporazentren nieder. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges boten sich immer weniger Möglichkeiten zur Emigration und Ziele wie Kuba, Shanghai, die Türkei oder Iran wurden zu lebensrettenden Zufluchtsorten.[3]

Und was ist mit Israel?


Neben den drei großen Zentren USA, Großbritannien und Argentinien nehmen wir auch Palästina/Israel in den Blick. Gemessen an seiner Gesamtbevölkerung sind zwischen 1933 und 1945 nirgendwo so viele Menschen aus dem deutschen Sprachraum eingewandert wie in das Mandatsgebiet Palästina. Es hob sich dabei grundsätzlich von allen anderen Zuwanderungsländern ab, da die Einwanderung nach Eretz Israel nach jüdischer Tradition als Rückkehr verstanden wird. Der Begriff der Diaspora lässt sich somit nicht umstandslos auf Israel übertragen. Und doch führten die großen Widrigkeiten vor Ort und der Verlust des früheren Lebens in Europa, das selbst die meisten Zionist:innen nicht freiwillig für Eretz Israel aufgegeben hätten, bei vielen deutschsprachigen Jüdinnen und Juden zu Gefühlen von Fremdheit und Differenz. Bezeichnenderweise bildete sich gerade im zionistisch geprägten Gemeinwesen, das besonders hohe Anpassungsforderungen an die Neuankömmlinge stellte, ein starker landsmannschaftlicher Zusammenhalt unter Rückbezug auf eine ,gemeinsame‘ deutsch-jüdische Herkunft aus.

Denn mit Gründung des Staates Israel 1948 verwandelte sich das imaginäre Heimatland, das sich bis dahin nur in Heinrich Heines (1797–1856) Bild von der Bibel als tragbarem ,Vaterland‘ manifestiert hatte, in einen realen Staat für Jüdinnen und Juden. Der Begriff Diaspora erfuhr daraufhin eine Zionisierung, die innerjüdisch intensiv diskutiert wurde und bis heute wird. Im zionistischen Selbstverständnis war nun von einem Ende der Diasporasituation die Rede, wenn nicht jüdische Existenz außerhalb Israels gar infrage gestellt wurde. Dem setzte man von nicht-zionistischer Seite entgegen, dass eine positive Vereinnahmung der Diasporaexistenz eine geradezu welthistorische Bedeutung haben könne. Das jüdische Diasporaverständnis selbst pluralisierte sich folglich geradezu als Reaktion auf seine vermeintliche Aufhebung infolge der ,Rückkehr ins Heimatland‘ durch die Staatsgründung.

Deutsche Jüdinnen und Juden, die in Israel bis heute als ,Jecke‘ bekannt sind, prägten die jüdische Gesellschaft des Mandatsgebiets Palästina seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen Bereichen auf signifikante Weise. Zentren ihrer Migration stellten unter anderem die Hafenstadt Haifa, die nördliche Stadt Naharija sowie der Jerusalemer Stadtteil Rechavia dar, zu denen jeweils eigenständige Forschung erschienen ist. Darüber hinaus machte sich auch in Tel Aviv der deutsch-jüdische Einfluss bemerkbar, der seinen sichtbarsten Ausdruck in der Migration der Architektur – dem Bauhaus – gefunden hat.[4]

Wann beginnt eine deutschsprachig-jüdische Diaspora? Zeitlicher Rahmen


Das Diaspora-Portal nimmt die verschiedenen historischen Phasen der deutsch-jüdischen Migration möglichst ganzheitlich in den Blick. Die historischen Ausgangspunkte, Kontinuitäten und Brüche der deutsch-jüdischen Diaspora sollen so über einen längeren Zeitraum sichtbar gemacht werden.

Bereits seit den 1830er Jahren, also lange vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, setzte eine Migration deutscher Jüdinnen und Juden ein, vor allem nach Nordamerika. Auch die Mehrheit der mehr als zwei Millionen Jüdinnen und Juden, die zwischen 1881 und den 1920er-Jahren aus Osteuropa in die USA emigrierten, reiste über Deutschland als Transitland. In der Folge entwickelten sich die USA um 1900 zum bedeutendsten Zentrum des Judentums jenseits von Europa. Neu eingewanderte deutsche Jüdinnen und Juden machten schon im 19. Jahrhundert vielerorts einen signifikanten Anteil der jüdischen Bevölkerung aus.

Exil und Emigration: 1933–1945


Eine völlig ungeahnte Dimension nahm das Anwachsen einer deutsch-jüdischen Diaspora ab 1933 an. Zwischen 250.000 und 300.000 deutsche Jüdinnen und Juden konnten nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten emigrieren, nachdem sie oftmals ihren Besitz verloren, lange Wartezeiten hinter sich gebracht und verschiedene Transitorte in Europa durchlaufen hatten. Weitere etwa 150.000 deutschsprachige Jüdinnen und Juden folgten im Gefolge des ,Anschluss‘ Österreichs und der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei 1938 im Zuge einer wachsenden Radikalisierung der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vertreibungspolitik.

Nach Kriegsbeginn im September 1939 wurde die Auswanderung erst recht erschwert und viele Jüdinnen und Juden in ihren Zufluchtsländern von den Kriegshandlungen eingeholt; im Oktober 1941 schließlich verboten die Nationalsozialisten jegliche Emigration.

Zwischen 1933 und 1941 sahen sich insgesamt rund 400.000 bis 430.000 deutschsprachige Jüdinnen und Juden gezwungen, ihre Herkunftsländer in Zentraleuropa infolge wachsender antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung zu verlassen. Die Zahl der Frauen, Kinder und Männer, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, lässt sich bis heute nicht eindeutig beziffern. Es ist anzunehmen, dass neben 270.000 bis 300.000 deutschen Jüdinnen und Juden insgesamt rund 130.000 von ihnen aus Österreich sowie 25.000 aus dem sogenannten Sudetengau und Protektorat Böhmen und Mähren im heutigen Tschechien kamen.[5] In all diesen Gebieten waren sie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft schutzlos ausgeliefert, die im Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht ihr Ende fand.

Die historische Zäsur des Nationalsozialismus für die jüdische Geschichte wird auch im Diaspora-Portal schwerpunktmäßig sichtbar, ohne dass wir uns auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränken. Wo es historisch zutreffend ist und Quellen- und Forschungslage es zulassen, nehmen wir auch deutsch-jüdische Lebenswelten außerhalb des deutschsprachigen Raums vor 1933 wie nach 1945 in den Blick. So lässt sich das transgenerationale Potenzial von Diaspora erkenntnisfördernd nutzen, indem mehrere Generationen in ihrer jeweiligen historischen Entwicklung und Verschränkung bedacht werden.

Dieser breitere Zeitrahmen ist nicht auf alle Länder gleichermaßen anzuwenden. Und doch beziehen wir Orte mit ein, in denen sich vor 1933 keine deutschsprachige jüdische Community etabliert und in denen sich auch später keine dauerhafte solche Gemeinschaft entwickelte. Um die vielfach von Transmigration geprägte deutsch-jüdische Diaspora im Sinne einer länderübergreifenden Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte in ihrer zeiträumlichen Vielfalt erfassen zu können, werden bewusst auch zeitlich begrenzte Diasporastrukturen in den Blick genommen.

Miriam Rürup

Weiterführende Literatur zum Einstieg


Liliana Ruth Feierstein, „Diaspora“, in: Christina von Braun/Micha Brumlik (Hg.), Handbuch Jüdische Studien, Wien, Köln, Weimar 2017, S. 99-109.

Sheer Ganor, Somewhere from Long Ago: The Global Displacement of German-Speaking Jewry (im Erscheinen).

Grit Jilek, Nation ohne Territorium. Über die Organisierung der jüdischen Diaspora bei Simon Dubnow , Baden-Baden 2013.

Steven M. Lowenstein, „Epilog: Die deutsch-jüdische Diaspora“, in: Avraham Barkei/Paul Mendes-Flohr (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4, München 2000, S. 372-381. PDF-Datei

Miriam Rürup (Hg.), Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeitgeschichte, Göttingen 2009.

Anmerkungen

[1] Steven M. Lowenstein, „Epilog: Die deutsch-jüdische Diaspora“, in: Avraham Barkei/Paul Mendes-Flohr (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4, München 2000, S. 372-381.
[2] Sheer Ganor, Somewhere from Long Ago: The Global Displacement of German-Speaking Jewry, S. 4 (im Erscheinen).
[3] Lowenstein, „Epilog: Die deutsch-jüdische Diaspora“, S. 372.
[4] Siehe für das Beispiel Haifa den umfangreichen, von Anja Siegemund herausgegebenen Sammelband Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel. Kulturtransfer, Lebenswelten, Identitäten. Beispiele aus Haifa, Berlin 2016; für Naharija Klaus Kreppel, Nahariyya und die deutsche Einwanderung nach Eretz Israel. Die Geschichte seiner Einwohner von 1935 bis 1941, Tefen 2010 sowie Nahariyya – das Dorf der „Jeckes“. Die Gründung der Mittelstandssiedlung für deutsche Einwanderer in Eretz Israel 1934/1935, Tefen 2005. Für Rechavia siehe zuletzt Thomas Sparr, Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem, Berlin, 2. Aufl., 2018 sowie Christian Kraft, Aschkenas in Jerusalem. Die religiösen Institutionen der Einwanderer aus Deutschland im Jerusalemer Stadtviertel Rechavia (1933–2004) – Transfer und Transformation, Göttingen 2014. Zur Stadtgeschichte Tel Avivs – und darüber hinaus – haben u.a. Joachim Schlör und Ita Heinze-Greenberg verschiedentlich geforscht.
[5] Sheer Ganor, Somewhere from Long Ago, S. 4.