Von Groß-Breesen nach Rolândia – Zuflucht und Neubeginn im brasilianischen Hinterland

Marlen Eckl

Quellenbeschreibung

Der in Wetzlar geborene Hans Rosenthal (1919–1973) gehörte zu den rund 370 Jugendlichen, die zwischen 1936 und 1942 auf dem Auswanderungslehrgut Groß-Breesen eine landwirtschaftliche Ausbildung durchliefen. Das nichtzionistische Lehrgut, das von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland gegründet und betrieben wurde, befand sich nördlich von Breslau (Wrocław). Es bot eine Alternative zu Hachschara-Gütern, die jüdische Jugendliche auf eine Auswanderung in das Mandatsgebiet Palästina vorbereiteten. Während der Novemberpogrome 1938 wurde Rosenthal oder ,Juwa‘, wie ihn andere Groß-Breesener:innen nannten, zusammen mit dem Gutsleiter Curt Bondy (1894–1972), den jüdischen Angestellten und seinen volljährigen Kameraden verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Im Frühjahr 1939 konnten Rosenthal und seine Eltern schließlich nach Brasilien emigrieren, wo sein Vater noch von Deutschland aus Land in Rolândia, im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná gelegen, erworben hatte. Der Auszug aus dem Brief vom 1. Oktober 1939 stammt aus dem siebenten ,Rundbrief an die alten Gross-Breesener‘ vom 7. Januar 1940. Die Rundbriefe wurden in unregelmäßigen Abständen aus den Briefen der ehemaligen Groß-Breesener:innen zusammengestellt.

Anfangs gehörten auch Berichte vom Lehrgut dazu. Sie sollten nicht nur die Verbindung und das Gemeinschaftsgefühl zwischen den infolge von Emigration und Flucht über die ganze Welt zerstreuten früheren Auszubildenden aufrechterhalten. Indem sie die gemeinsame Erfahrung intensivierten, besaßen sie eine identitätsstiftende Kraft. 65 Jahre lang, von 1938 bis 2003, bildeten die Rundbriefe ein wichtiges Austauschforum. So entwickelten sie sich über die Jahrzehnte zu einem Zeugnis der verschiedenen Lebenswege ehemaliger Groß-Breesener:innen und spiegeln exemplarisch den transnationalen Charakter der deutsch-jüdischen Diaspora wider. Aus der Anfangszeit stammend, veranschaulicht Rosenthals Brief mittels ausführlicher Beschreibung der klimatischen Voraussetzungen und der Anbauformen in Rolândia, dass die Jugendlichen ihre Erfahrungen und ihr Wissen hinsichtlich der unterschiedlichen geografischen Bedingungen und Landwirtschaftsformen miteinander teilten und sich auf diese Weise beim Aufbau eines neuen Lebens in den jeweiligen Zufluchtsländern gegenseitig unterstützten.

  • Marlen Eckl

Rolândia – Eine Zuflucht im brasilianischen Urwald


Mit dem Ziel, Siedlungsaktivitäten in Brasilien zu realisieren, gründete die britische Investmentgesellschaft Paraná Plantations Syndicate Ltd. (PPS) 1925 die Companhia de Terras Norte do Paraná (CTNP), die für das operative Siedlungs- und Kolonisationsgeschäft in Brasilien verantwortlich war. Drei Jahre später kaufte sie die Mehrheit der Aktien der Eisenbahngesellschaft Companhia Ferroviária São Paulo-Paraná (CFSPP). 1932 schlossen die deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Studien in Übersee (GWS) und die PPS einen Vertrag, auf dessen Grundlage die CTNP ein größeres Landgebiet für die ausschließlich deutsche Besiedlung reservierte. So entstand die Siedlung Rolândia, die in den 1930er Jahren zunehmend zu einem Fluchtpunkt für Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes im brasilianischen Urwald wurde.

Ausschlaggebend dafür war ein Tauschgeschäft, das der ehemalige Reichstagabgeordnete der Zentrumspartei Johannes Schauff (1902–1990) gemeinsam mit dem früheren Reichsminister für Finanzen und Vizekanzler Erich Koch-Weser (1875–1944) und dem Tropenlandwirt Oswald Nixdorf (1902–1981) ausgearbeitet hatte: Wer Eisenbahn-Material in Deutschland erwarb, erhielt Einreise- und Niederlassungsgenehmigungen für Brasilien sowie Landanteilscheine in Rolândia. Nachdem anfangs politische Oppositionelle, zumeist aus dem katholischen Milieu, nach Rolândia emigriert waren, suchten infolge der sich verschärfenden Ausgrenzung und Verfolgung vermehrt auch jüdische Familien und Flüchtlinge dort Zuflucht.

Die Tatsache, dass sich der Kolonisationsprozess in Rolândia in verschiedenen Gruppen und zu unterschiedlichen Zeiten vollzogen hatte, führte zu einer heterogenen Zusammensetzung der dortigen Gemeinschaft. Spannungen waren infolge politischer, konfessioneller, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Unterschiede unausweichlich. Da viele der deutschen Siedler:innen dem Nationalsozialismus aufgeschlossen gegenüberstanden bzw. anhingen und sich schon 1935 in Rolândia eine Ortsgruppe der Auslands-NSDAP gegründet hatte, zogen es die jüdischen Emigrant:innen vor, unter sich zu bleiben und sich von diesen Einwohner:innen Rolândias fernzuhalten. Vielmehr suchten sie den Kontakt zu anderen deutschen Jüdinnen und Juden in den Städten.

Über die Anzahl jüdischer Emigrant:innen in Rolândia sind unterschiedliche Angaben zu finden. Während Geert Koch-Weser (1905–?), der Sohn von Erich Koch-Weser, 25 Familien angab, nennen andere Quellen 291 Personen jüdischer Abstammung, von denen 150 Land erworben hatten. Einer von ihnen war der im Brief erwähnte, aus Schroda (Środa Wielkopolska) in Pommern stammende Heinrich Kaphan (1893–1981), der einer der wenigen Landwirte unter den jüdischen Flüchtlingen war und mit seiner Familie 1936 nach Brasilien emigrierte. Ferner gehörten zu ihnen unter anderem der Frankfurter Rechtsanwalt Max Hermann Maier (1891–1976) und seine Frau Mathilde Maier geborene Wormser (1896–1997), eine promovierte Chemikerin, der Jurist Friedrich Ernst Traumann (1877–1953), Oskar Altmann (1880–1948), einer der leitenden Direktoren der Düsseldorfer Mannesmann-Werke sowie Rudolf Isay (1886–1956), ein bekannter Patentanwalt und Kartellfachmann samt Familien.

Gemeinsam führten die Kaphans und die Maiers das ihnen gehörende Landgut, die Fazenda Jaú, die am gleichnamigen Fluss gelegen war. Beide setzten sich sehr für die Emigration der Groß-Breesener:innen nach Rolândia ein. Auf der Fazenda wurde sogar ein sogenanntes Elevenhaus für die Auszubildenden errichtet. Aber trotz der Reise einer Sonderkommission der Reichsvertretung der Juden in Deutschland nach Paraná, in der auch ein Auszubildender Groß-Breesen repräsentierte, und jahrelanger Verhandlungen scheiterte das Vorhaben letzten Endes an den nationalsozialistischen Bestimmungen und der restriktiven, antisemitisch geprägten Immigrationspolitik des Regimes von Präsident Getúlio Vargas (1882–1954). Hans Rosenthal sollte daher der einzige Groß-Breesener sein, dem es gelang, nach Rolândia zu kommen. In seiner dem Brief angefügten Bemerkung drückte Curt Bondy sein Bedauern darüber aus. Damals hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass weitere Auszubildende des Lehrguts folgen könnten. Tatsächlich wurde Rolândia als eine Möglichkeit für eine Gesamtsiedlung eines ,Neu Groß-Breesens‘ in Betracht gezogen.

Abb. 1: Hans Rosenthal um 1936; Inge M. Rosenthal Collection, Box 1, Folder 2, AR 10476 / MF 634, Leo Baeck Institute.

Entbehrungsreiche Anfangsjahre


Als Rosenthal 1939 in Rolândia eintraf, lag die harte Zeit der Anfangsjahre schon hinter den Emigrant:innen. Die Erschließung des bis dahin unbesiedelten brasilianischen Hinterlandes hatte den Menschen einiges abverlangt. Die meist akademisch ausgebildeten, aus gut bürgerlichen Verhältnissen und der städtischen oberen Mittel- und Oberschicht stammenden Jüdinnen und Juden sahen sich gezwungen, ihr früheres kultiviertes Leben gegen eine anfänglich überaus entbehrungsreiche Existenz einzutauschen. Bevor sie mit dem Bau eines Hauses auf dem erworbenen Grundstück beginnen konnten, mussten sie den vorhandenen Urwald erst einmal roden. Die Emigrant:innen waren mit einer unbekannten Flora und Fauna konfrontiert und einem subtropischen Klima ausgesetzt. Pferde und Pferdewagen dienten als Transportmittel und wurden in der landwirtschaftlichen Arbeit eingesetzt. Es gab keine Elektrizität, kein Telefon und kein Radio. Die medizinische Versorgung war nur rudimentär vorhanden. Indem sie die Hauptverantwortung für den Haushalt und die Kindererziehung trugen, waren zusätzliche Anforderungen an die Frauen in diesen entbehrungsvollen Anfangsjahren gestellt.

Die schmerzhaften Entsagungen und der unermüdliche, unerschrockene Einsatz der Emigrant:innen wurden letztlich belohnt: Nicht nur erfüllte es sie mit Stolz, eigenes Land zu besitzen und zu bepflanzen, wie Rosenthal in seinem Brief schrieb: „Es ist ein toller Gedanke für mich, vielleicht bald auf eigenem Grund und Boden zu stehen.“ Auch der Zauber und die üppige Fruchtbarkeit der tropischen Natur entschädigten für viele Schrecken und Notlagen, die sie hatten durchleiden müssen.

Bildung für die jüngere Generation


Ungeachtet der widrigen Bedingungen legten die Emigrant:innen viel Wert darauf, ihrem Nachwuchs die bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen. Einige Familien brachten Privatlehrer:innen mit. So begleitete Eleanor Eyck (1913–2009), Tochter des Berliner Historikers Erich Eyck (1878–1964), die befreundete Familie Kaphan nach Rolândia, um die drei Kinder und die anderer Familien zu unterweisen. Das Lehrer:innenehepaar Wilhelm (1904–?) und Anita Speyer (1904–?), das vor der Emigration aus Deutschland an verschiedenen jüdischen Schulen in Berlin tätig gewesen war, unterrichtete ebenfalls in Rolândia. 1940 zog es nach São Paulo, um das Jugendhaus, die Casa da Juventude, der Congregação Israelita Paulista (CIP) zu leiten. Von deutsch-jüdischen Emigrant:innen 1936 in São Paulo gegründet, prägte die CIP unter Führung ihres ersten Rabbiners Fritz Pinkuss (1905–1994) das liberale Judentum in Brasilien und Südamerika maßgeblich. Sie wurde zu einer der größten jüdischen Gemeinden des Kontinents.

Obwohl Portugiesisch selbstverständlich auch zum Lehrplan gehörte, legten die Emigrant:innen vor allem Wert darauf, dass den Kindern die Fächer des deutschen Bildungskanons, einschließlich Griechisch und Latein, gelehrt wurden. Darüber hinaus gab Else Traumann (1888–1978), eine ausgebildete Konzertsängerin, zahlreichen Kindern Musik- und Klavierunterricht, die eigens dafür von ihren jeweiligen Fazendas zur Fazenda Gilgala geritten kamen. Dort erteilte Mathilde Maier auch Religions- und hebräischen Sprachunterricht und vermittelte der jüngeren Generation die Grundlagen der jüdischen Geschichte und Religion.

Geistiges Zentrum und verbindende Kraft


Trotz oder gerade wegen der Wildheit der Natur wollten die Emigrant:innen ihre deutsch-jüdisch geprägte Kultiviertheit nicht preisgeben. Die Bewahrung der deutschen Kultur und Sprache war für viele daher von fundamentaler Bedeutung, diente sie doch auch der Selbstvergewisserung. Der Literatur kam dabei eine maßgebliche Rolle zu. Einige Emigrant:innen hatten ihre umfangreichen Bibliotheken nach Rolândia mitnehmen können. Mittels der Literatur war es ihnen möglich, zu einer Welt zurückzukehren, aus der sie vertrieben worden waren. Die Bibliotheken wurden zum Sinnbild ihrer kulturellen Identität. Das gegenseitige Verleihen von Büchern und der Austausch über die Lektüre hatten einen großen Stellenwert. Nicht selten wurde beim Reiten gelesen und es kam vor, dass Tiere nach Figuren aus Romanen benannt wurden. Manche entdeckten das Werk des deutschen Dichters Goethe (1749–1832) neu und sahen in ihm einen Tröster, Lehrer und Begleiter. Auch Rosenthal legte seinen Groß-Breesener Kamerad:innen in einem Brief von 1942 die Lektüre von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) ans Herz, die er für eine Fundgrube tiefer und praktischer Philosophie befand.

Rezitationsabende, Lesungen, Theater- und Konzertaufführungen wurden veranstaltet, die den Emigrant:innen die Gelegenheit boten, aus der sozialen Isolation der meist mehrere Kilometer voneinander entfernt gelegenen Fazendas herauszukommen und einander zu sehen. Die Fazenda Gilgala der Familie Traumann gehörte zu den Landgütern, die einen Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Gemeinschaft bildeten. Auf diese Weise entwickelte sich Rolândia zu einer Art geistigem Zentrum im brasilianischen Hinterland und die zunächst nur auf privater Initiative realisierten kulturellen Aktivitäten fanden mit der Gründung der Pró Arte Rolândia 1953 einen institutionellen Rahmen. Als Mitbegründer und Leiter der Kulturgesellschaft gestaltete Max Hermann Maier das kulturelle Leben. In Hunderten von Veranstaltungen aus dem Bereich der Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft und des Theaters, zu denen die Mitwirkenden aus Brasilien und dem Ausland, insbesondere Deutschland, nach Rolândia kamen, wurden dem interessierten Publikum Werke des deutschen Geistesgutes sowie die Geschichte, Wirtschaft, Kultur und Lebenswelt Brasiliens nähergebracht.

Infolge der Abgeschiedenheit im Urwald war für die Emigrant:innen neben der Pflege der deutschen Kultur der Kontakt zu den Schicksalsgenoss:innen in Rio de Janeiro, São Paulo und Porto Alegre von großer Wichtigkeit. Es gab Verbindungen vielfältiger Art. Hervorzuheben ist, dass sich elf der jüdischen Familien der CIP in São Paulo anschlossen und damit in deren Gemeinschaft eingebunden waren. Überdies trat das Ehepaar Speyer nach der Aufnahme der Tätigkeit bei der CIP als Bindeglied auf und brachte Kinder und Jugendliche aus der jüdischen Gemeinde in São Paulo und der Siedlung zusammen. Ferner bestanden auch persönliche Beziehungen zwischen Emigrant:innen in Rolândia und in den Metropolen, darunter die Bekanntschaft zwischen Rosenthal und dem Mitgründer von Groß-Breesen und Vorsitzenden dessen Arbeitsausschusses, Alfred Hirschberg (1901–1971), der 1940 nach Brasilien emigriert war und in São Paulo lebte. Kinder und Jugendliche aus Rio de Janeiro, São Paulo und Porto Alegre verbrachten Ferien oder längere Aufenthalte bei Verwandten und Freund:innen in Rolândia. Umgekehrt kamen Kinder und Jugendliche aus Rolândia in die Städte, um dort etwa die Schule zu besuchen. Einige wohnten in São Paulo bei dem Ehepaar Speyer oder befreundeten Familien. Dies alles trug dazu bei, den Zusammenhalt zu stärken. Obwohl es kein Zentrum der deutschsprachigen Emigration in Brasilien gab, bildete Rolândia eine Art verbindende Kraft und gemeinsame Erfahrung für die gesamte dortige Gemeinschaft.

Ein neues Zuhause


In seinem Brief führte Rosenthal die Gemüse- und Getreidesorten auf, mit denen die Emigrant:innen ihre neue Existenz als Siedler:innen in Rolândia begannen. Bohnen, Reis, Mais, Sojabohnen und Baumwolle sowie Viehzucht erwiesen sich als verlässliche Einkommensquellen in den Anfangsjahren. Anschaulich schilderte Rosenthal die unterschiedlichen Arten der Aussaat für die jeweiligen Feldfrüchte und deutete eine wichtige Veränderung an, die mit der Pflanzung der Kaffeebäume einherging. Denn in jenen Jahren begannen Rolândia und Paraná dank der dort vorhandenen, sehr fruchtbaren terra roxa, der roten Erde, zu einem weiteren wichtigen Kaffeeanbaugebiet in Brasilien zu avancieren.

Abb. 2: Die Fazenda Nova Breesen in Rolândia, 1982; Archiv Martius-Staden Institut, São Paulo.

Rosenthal schloss die erwähnte Ausbildung unter Anleitung von Kaphan ab. Nachdem er auf verschiedenen Fazendas als Hofverwalter gearbeitet hatte, machte er 1942 das von seinem Vater im oben genannten Tauschgeschäft erworbene Land urbar und errichtete seine eigene Fazenda. Nie hatte er einen Zweifel darüber gehabt, wie die Fazenda heißen sollte: Nova Breesen. Damit gab er nicht nur seiner Hoffnung Ausdruck, dass ihm noch weitere Kamerad:innen folgen mochten. Darüber hinaus spiegelte dieser Name die immerwährende Verbundenheit mit Groß-Breesen wider. Trotz der vergleichsweise kurzen Zeitspanne war es für Rosenthal und viele andere Absolvent:innen eine prägende Erfahrung, die sie zeitlebens bewahrten und lebendig hielten.

Der Kaffeeboom Ende der 1940er Jahre und Anfang der 1950er Jahre brachte den Emigrant:innen finanziellen Wohlstand und Rolândia einen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem die gesamte Region von Nordparaná profitierte. Während viele der ehemaligen Groß-Breesener:innen in ihren jeweiligen Exilländern die Landwirtschaft aufgaben, vergrößerte Rosenthal ebenso wie einige andere Emigrant:innenfamilien in Rolândia seine Ländereien und leitete neben seinem Gut noch vier weitere Betriebe. Wenngleich ihre Anzahl verhältnismäßig klein war, prägten die jüdischen Flüchtlinge des Nationalsozialismus die Siedlung nachhaltig.

Im Unterschied zu den meisten anderen landwirtschaftlichen Siedlungsprojekten in Lateinamerika, die jüdischen Emigrant:innen eine Zuflucht boten, erwies sich Rolândia als erfolgreich und wuchs zu einer aufstrebenden Kleinstadt heran, die heute rund 72.000 Einwohner:innen umfasst. Neben Kaffee wurden Soja, Mais und Weizen wichtige Erzeugnisse. Auch die Viehwirtschaft entwickelte sich zu einem bedeutenden Erwerbszweig.

Obwohl das Leben und Arbeiten in der Natur zu Beginn eine fast unüberwindbare Herausforderung darstellten, war es gerade dieser direkte, physische Kontakt mit derselben Natur, der die Emigrant:innen buchstäblich Wurzeln in dem Zufluchtsland Brasilien schlagen und eine enge Bindung zu ihm aufbauen ließ. Nicht zuletzt dank der Fruchtbarkeit der subtropischen Landschaft wurde Rolândia für Rosenthal wie für die meisten anderen Emigrant:innen zu einem dauerhaften, neuen Zuhause. Mit der noch heute von der Familie Rosenthal geführten Fazenda Nova Breesen ist Rolândia darüber hinaus wahrscheinlich der einzige Ort auf der Welt, an dem auf einem landwirtschaftlichen Gut die Erinnerung an Groß-Breesen wachgehalten wird.

Auswahlbibliografie


Marlen Eckl, „,Europe in the Jungle‘ – The Agricultural Settlement of Rolândia, a Place of Refuge in the Interior of Brazil“, in: Swen Steinberg/Helga Schreckenberger (Hg.), Environments of Exile. Nature, Refugees, Representations, Göttingen 2024, S. 77-96.
Gudrun Fischer, „Unser Land spie uns aus.“ Jüdische Frauen auf der Flucht vor dem Naziterror nach Brasilien, Offenbach 1988.
Ethel Volfzon Kominsky, Rolândia, a Terra Prometida. Judeus Refugiados do Nazismo no Norte do Paraná, São Paulo 1985.
Peter Johann Mainka, Roland und Rolândia im Nordosten von Paraná. Gründungs- und Frühgeschichte einer deutschen Kolonie in Brasilien (1932–1944/45), São Paulo 2008.
Marco Antonio Neves Soares, Da Alemanha aos Trópicos. Identidades Judaicas na Terra Vermelha (1933–2003), Londrina 2012.

Weiterführende Inhalte


Sammlung Rolândia Collection, Dokumente BR: https://dokumente.ufpr.br/en/rolandia.html

Marlen Eckl, „Ich suchte eine Zuflucht, und ich fand eine Heimat…“ – Das deutschsprachige Exil in Brasilien, 1933 – 1945“, in: Deutsch-Brasilianische Beziehungen, Bd. 1: „Ich suchte eine Zuflucht, und ich fand eine Heimat... “ – Das deutschsprachige Exil in Brasilien, 1933-1945 – Marlen Eckl

Flucht in den Dschungel. (Film von Michael Juncker, Deutschland, 1999): https://vimeo.com/ondemand/fluchtindendschungel

Caio Koch-Weser „Rolândia in Brasilien“ (Eröffnungsrede zur Ausstellung „Deutschsprachiges Exil in Brasilien (1933–1945), Deutsches Exilarchiv, Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main 2013): https://www.yumpu.com/de/document/read/23018012/caio-koch-weser-rede-zur-eroffnung-der-ausstellung-mehr-

Biografischer Eintrag im Projekt Spurensuche des Deutschen Alpenvereins (DAV) zu: Maier, Mathilde - SPURENSUCHE NATIONALSOZIALISMUS

Biografischer Eintrag im Projekt Spurensuche des Deutschen Alpenvereins (DAV) zu: Maier, Max Hermann - SPURENSUCHE NATIONALSOZIALISMUS

Max Hermann Maier, Sammlung über Emigration nach Brasilien und Rolândia: https://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-2283.pdf

„Alles andere als romantisch“, in: DER SPIEGEL 17/49: https://www.spiegel.de/politik/alles-andere-als-romantisch-a-459249fd-0002-0001-0000-000044436115

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Zur Autorin

Dr. Marlen Eckl ist Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das deutschsprachige Exil in Brasilien, die brasilianisch-jüdische Geschichte und Literatur des 20. Jahrhunderts sowie die Geschichte Brasiliens 1933–1945. Zu ihren Publikationen gehören u.a. Stefan Zweig und Jakob Wassermann – Eine Lebensbekanntschaft im Licht ihrer Korrespondenz (1908–1933) (mit Jeffrey B. Berlin), Würzburg 2023; Von der Exilforschung zur Exilerfahrung. Zum Jahrhundertleben eines transatlantischen Brückenbauers. Festschrift zu Ehren von Guy Stern (hg. mit Frederick A. Lubich), Würzburg 2022; ,Das Paradies ist überall verloren.‘ Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2010 sowie die deutschen Übersetzungen der brasilianischen Stefan-Zweig-Biografie von Albert Dines, Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig, Frankfurt a. M. 2006 und des Rolândia-Romans von Luis S. Krausz, Das Kreuz des Südens, Berlin 2019.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Marlen Eckl, Von Groß-Breesen nach Rolândia – Zuflucht und Neubeginn im brasilianischen Hinterland, in: Geschichte[n] der deutsch-jüdischen Diaspora, 08.05.2025. <https://diaspora.juedische-geschichte-online.net/beitrag/gjd:article-18> [09.05.2025].

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