Gross-Breesen Letter 18, April 49 – Einblicke in die Korrespondenzen eines transnationalen Netzwerkes

Wiebke Zeil

Quellenbeschreibung

Im April 1949 er­schien der Gross-​Breesen Let­ter 18 als eine Samm­lung von Brie­fen, kur­zen Mel­dun­gen und Adres­sen von ehe­ma­li­gen Aus­zu­bil­den­den des 1936 ge­grün­de­ten ,jü­di­schen Aus­wan­dererlehr­guts Groß-​Breesen‘ in Schle­si­en. Die Aus­bil­dung in Land­wirt­schaft und Hand­werk sowie in Haus­wirt­schaft für die jun­gen Frau­en soll­te die Chan­cen der deutsch-​jüdischen Ju­gend­li­chen auf Emi­gra­ti­on in Über­see­län­der be­güns­ti­gen und sie auf ein Leben in den künf­ti­gen Auf­nah­me­län­dern vor­be­rei­ten.

Der Rund­brief, der Texte so­wohl auf Deutsch als auch auf Eng­lisch um­fasst, wurde von dem Jour­na­lis­ten Ernst Cra­mer (1913–2010) zu­sam­men­ge­stellt. Als ehe­ma­li­ger Prak­ti­kant auf dem Gut konn­te er 1939 in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten emi­grie­ren und ar­bei­te­te im April 1949 als stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur für Die Neue Zei­tung der US-​amerikanischen Be­sat­zungs­be­hör­de in Mün­chen. Neben Cra­mer war der eben­falls in die USA ge­flo­he­ne Psy­cho­lo­ge Curt Bondy (1894–1972), ehe­mals Lei­ter des Lehr­gutes, die zwei­te fe­der­füh­ren­de Figur beim Er­schei­nen des Rund­brie­fes. Ei­ni­ge Zu­schrif­ten rich­te­ten sich di­rekt an ihn.

Auf 32 ma­schi­nen­schrift­li­chen Sei­ten stell­te Cra­mer eine Aus­wahl an Brie­fen aus Kenia, Süd­ame­ri­ka, den USA und Is­ra­el wie auch der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne zu­sam­men. Sie wur­den viel­fach nur in ge­kürz­ter Form wie­der­ge­ge­ben. Die Rund­brie­fe, auch be­kannt als Bree­sen Let­ters, zir­ku­lier­ten zwi­schen 1938 und 2003 in un­re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den welt­weit, wobei sich ihre The­men, In­hal­te, Form und Her­aus­ge­ber­schaft über die Jahr­zehn­te wan­del­ten. Heute sind sie im Leo Baeck In­sti­tut in New York ar­chi­viert und er­mög­li­chen viele in­ter­es­san­te Ein­bli­cke in die spe­zi­fi­schen Le­bens­wel­ten deutsch­spra­chi­ger Jü­din­nen und Juden in der Dia­spo­ra.

  • Wiebke Zeil

„Is there still [a] Need for Circular Letters?”


Unter der über­ge­ord­ne­ten Fra­ge­stel­lung „Is there still [a] Need for Cir­cu­lar Let­ters?“ Curt Bondy, Rich­mond, VA., No­vem­ber 1948, in: Rund­brief (1949), S. 1-5, hier S. 1. er­schien der 18. Rund­brief der ehe­ma­li­gen ,Groß-​Breesener‘ zwei Jahre nach der letz­ten Aus­ga­be von 1947. Darin wur­den nicht nur Sinn und Zweck wei­te­rer Kor­re­spon­denz­samm­lun­gen zur De­bat­te ge­stellt. Die zu­grun­de­lie­gen­de Frage war im Jahr 1949 viel­mehr jene nach der Be­deu­tung und der Ver­hand­lung von Zu­ge­hö­rig­kei­ten zur ,Bree­se­ner Ge­mein­schaft‘. Sie hatte ihren An­fang im Som­mer 1936 auf dem land­wirt­schaft­li­chen Aus­bil­dungs­gut Groß-​Breesen nahe Bres­lau (Wrocław) ge­fun­den, wobei die Ehe­ma­li­gen nun, 13 Jahre spä­ter, welt­weit ver­streut leb­ten.

Wäh­rend Cramers ein­lei­ten­de Worte von 1949 als Auf­ruf an alle zu ver­ste­hen sind, sich an der Dis­kus­si­on über das wei­te­re Er­schei­nen der Rund­brie­fe und deren Be­deu­tung zu be­tei­li­gen, lässt sich Bon­dys Bei­trag als eine Art Be­stands­auf­nah­me lesen. So wies er dar­auf hin, dass „die ,Säu­len‘, auf denen wir G.B. [Groß-​Breesen] auf­ge­baut hat­ten, all­mäh­lich alle ge­bors­ten sind: deut­sche Kul­tur, ge­mein­sa­me Spra­che, Ju­den­tum, ge­mein­sa­mer Beruf.“ Bondy frag­te daher: „Was bleibt übrig? Ist es wirk­lich nicht mehr als eine ro­man­ti­sche Sehn­sucht, als ein ‚weisst du noch?‘“ Ebd., S. 1.

Wie be­reits in frü­he­ren Rund­brie­fen lässt sich auch hier Bondys Bei­trag als Wei­ter­füh­rung sei­ner päd­ago­gi­schen Ein­fluss­nah­me ver­ste­hen. Als ehe­ma­li­ger Lei­ter des Lehr­gutes oblag ihm die geis­ti­ge Er­zie­hung der Ju­gend­li­chen. Über das Me­di­um der Rund­brie­fe führ­te er diese Auf­ga­be, neben pri­va­ter Kor­re­spon­denz, im Exil fort. Mit sei­nen Bei­trä­gen rahm­te Bondy die un­ter­schied­li­chen Er­fah­run­gen der deutsch-​jüdischen Exi­lant:innen und bot ihnen als neuen ge­mein­sa­men Be­zugs­punkt die zeit­wei­se er­leb­te Groß-​Breesener Ver­bun­den­heit nun schrift­lich und wie­der­keh­rend in Form einer ge­fühl­ten Ge­mein­schaft.

Die Frage, „Was bleibt übrig?“ prüf­te ei­ner­seits die Trag­kraft die­ser Ge­mein­schafts­idee. An­de­rer­seits knüpf­te Bondy an seine Be­stands­auf­nah­me einen zu­kunfts­wei­sen­den Auf­trag: Die ei­ge­nen Er­fah­run­gen und Mög­lich­kei­ten zu nut­zen, um Be­zie­hun­gen zwi­schen Men­schen zu ver­bes­sern und die Welt der Nach­kriegs­zeit zu einem bes­se­ren Ort zu ma­chen. Dabei stell­te er die er­fah­re­ne an­ti­se­mi­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung, Ver­fol­gung und er­zwun­ge­ne Emi­gra­ti­on aus NS-​Deutschland, aber auch das po­si­ti­ve Ge­mein­schafts­le­ben auf dem Lehr­gut als ver­bin­den­den Er­fah­rungs­raum der ehe­ma­li­gen ,Groß-​Breesener‘ dar, der sie auch in der Dia­spo­ra zu einem be­wuss­ten, vol­len und wert­vol­len jü­di­schen Leben be­fä­hi­gen soll­te.

Mit die­sem Ap­pell an die ei­ge­ne ak­ti­ve Le­bens­ge­stal­tung in der Ge­gen­wart und Zu­kunft sowie dem Auf­ruf, sich wei­ter­hin aus­zu­tau­schen, ver­or­te­te Bondy – ein­mal mehr – die Be­deu­tung der Rund­brie­fe und der Bree­se­ner Ge­mein­schaft au­ßer­halb der rein ro­man­ti­schen Rück­be­sin­nung. Und so en­de­te er sei­nen Bei­trag mit einem klei­nen Au­gen­zwin­kern, indem er schrieb:

„Nun möch­te ich na­tür­lich sehr gern wis­sen, ob und wie­weit Ihr mit mei­nen Mei­nun­gen über­ein­stimmt, vor allem, wo Ihr ab­weicht und wo Ihr Ein­satz­mög­lich­kei­ten seht, bzw. wo Ihr schon in die­ser Rich­tung ar­bei­tet. Viel­leicht ma­chen die Ant­wor­ten es mehr als wert, einen wei­te­ren Rund­brief zu ver­öf­fent­li­chen.“  Ebd., S. 5.

Auf der Suche nach Neuanfängen


Die Frage nach der Re­le­vanz der Rund­brie­fe be­zie­hungs­wei­se der ,Groß-​Breesener‘ Ge­mein­schaft und deren Be­deu­tung war ab­hän­gig von den je­wei­li­gen Le­bens­we­gen, den Er­fah­run­gen von Exil und Ver­fol­gung wie auch dem Ort des Schrei­bens zum Zeit­punkt des Bei­trags. Das ver­an­schau­li­chen wohl am deut­lichs­ten die Zu­schrif­ten des in Ber­lin ge­bo­re­nen His­to­ri­kers Wer­ner Tom An­gress (1920–2010) auf der einen und die von Ru­dolf (1921–2009) und Henny Weiss ge­bo­re­ne Lemm­lein (1917–2012) auf der an­de­ren Seite. An­gress war 1939 über die Nie­der­lan­de in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten emi­griert, als Sol­dat der al­li­ier­ten Streit­kräf­te An­fang 1944 nach Eu­ro­pa zu­rück­ge­kehrt und hatte nach Kriegs­en­de sein Stu­di­um der Ge­schichts­wis­sen­schaf­ten in den USA be­gon­nen. Sich selbst im „stage of ar­ri­val“ W. [Wer­ner] T. [Tom] An­gress, Midd­le­town, Conn., Oc­to­ber 1948, in: Rund­brief (1949), S. 5f., hier S. 6. be­grei­fend, war das Leben in Deutsch­land und damit auch Groß-​Breesen für ihn nun mehr Teil der Ver­gan­gen­heit. Be­son­ders aus dem letz­ten Satz lässt sich auch der Wunsch lesen, die Ver­gan­gen­heit nicht zum be­stim­men­den Fak­tor für das ge­gen­wär­ti­ge und künf­ti­ge Leben wer­den zu las­sen. So be­ton­te er, dass „gra­du­al­ly, most Bree­se­ners have be­co­me ci­ti­zens of their new home­lands. The old ties have wea­ke­ned as time went by… The in­te­rest as to what other Bree­se­ners are doing has given way to clo­ser and more imme­di­a­te con­side­ra­ti­ons, and for most of us only a tra­di­ti­on is left to-​day. […] We can­not live by me­mo­ries all our lives.” Ebd., S. 6. Sei­nen Bei­trag ver­fass­te er, im Ge­gen­satz zu Bondy und Cra­mer, die zwi­schen den Spra­chen wech­sel­ten, aus­schließ­lich auf Eng­lisch, wie die meis­ten der ehe­ma­li­gen ,Groß-​Breesener‘, die Ende der 1930er Jahre in eng­lisch­spra­chi­ge Län­der emi­grie­ren konn­ten. Die Wahl der Spra­che für die Brie­fe an eine deutsch­spra­chi­ge Ge­mein­schaft lässt sich als Aus­druck des An­kom­mens in den Auf­nah­me­län­dern und -​gesellschaften, wie auch als Ab­gren­zung zu der Ver­gan­gen­heit und der ehe­ma­li­gen deut­schen Hei­mat in­ter­pre­tie­ren.

Abb. 1: Aus­zu­bil­den­de in Groß-​Breesen bei der ge­mein­sa­men Gar­ten­ar­beit, um 1940; Pri­vat­be­sitz Al­brecht Wein­berg.

Für Ru­dolf, ge­nannt Rudi, und Henny Weiss hin­ge­gen wurde der Bezug zur (ge­mein­sa­men) Ver­gan­gen­heit zum sinn­stif­ten­den Mo­ment für ihre Ge­gen­wart im Nach­kriegs­deutsch­land. So hoben sie in ihren sehr per­sön­li­chen Bei­trä­gen vor allem ihre große Dank­bar­keit her­vor: „Wir müs­sen von Her­zen Euch Bree­se­nern und un­se­rem Bo [Bondy] dan­ken für all Eure Be­reit­schaft, uns in jeder Hin­sicht zu hel­fen. Ihr habt uns durch Eure Brie­fe und durch Eure gros­se ma­te­ri­el­le Hilfe so gros­se Freu­de ge­macht, Ihr habt uns wie­der Mut zum Leben ge­ge­ben.“ Rudi und Henny Weiss, Ber­lin, De­zem­ber 1948, in: Rund­brief (1949), S. 15-18, hier S. 16.

Bei­den war die Flucht aus NS-​Deutschland nicht mehr ge­lun­gen; von Groß-​Breesen aus durch­lie­fen sie meh­re­re Zwangs­ar­beits­la­ger, bevor sie in das Ghet­to The­re­si­en­stadt de­por­tiert wur­den, wo sie im Mai 1945 die Be­frei­ung durch die Rote Armee er­leb­ten. 1948 waren sie als so­ge­nann­te Neu­bau­ern in einer land­wirt­schaft­li­chen Sied­lung in der ,So­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne‘ (SBZ) tätig, zudem hatte Rudi Weiss in Ber­lin ein Stu­di­um der Land­wirt­schaft auf­ge­nom­men. Er hoff­te da­durch, die an­ge­streb­te, aber zu die­sem Zeit­punkt nicht mög­li­che Aus­wan­de­rung aus Deutsch­land zu be­güns­ti­gen.

Für das Ehe­paar Weiss bot der Rund­brief 1949 das, was An­gress ihm an Be­deu­tung schon für die spä­ten 1930er und frü­hen 1940er Jahre zu­ge­schrie­ben hatte: „a life line, a moral boos­ter, a piece of se­cu­ri­ty. Peop­le read it be­cau­se they felt then that con­tact with other Bree­se­ners was es­sen­ti­al to them, gave them sup­port.” W. T. An­gress, S. 5.

Die emp­fun­de­ne und er­fah­re­ne Ge­mein­schaft der ehe­ma­li­gen ,Groß-​Breesener‘ bot ihnen Halt und einen po­si­ti­ven Be­zugs­punkt in einem Leben, das ge­prägt war von den Er­fah­run­gen der Ver­fol­gung, den un­mit­tel­ba­ren Nöten der Nach­kriegs­jah­re und dem – im Falle von Rudi und Henny Weiss – wei­ter­hin prä­sen­ten An­ti­se­mi­tis­mus in (Ost-)Deutsch­land.

Die ,Säulen‘ Groß-Breesens in der deutsch-jüdischen Diaspora


Be­reits in sei­nem ein­füh­ren­den Bei­trag des 18. Rund­briefs kon­sta­tier­te Curt Bondy das Schei­tern der Säu­len („deut­sche Kul­tur, ge­mein­sa­me Spra­che, Ju­den­tum, ge­mein­sa­mer Beruf“), die be­reits bei Grün­dung des Lehr­gutes ent­schei­dend, aber nicht un­um­strit­ten waren. Gleich­falls präg­ten diese den Rund­brief so­wohl in­halt­lich als auch in sei­nem Auf­bau wei­ter­hin.

In den ,Farm Let­ters‘ (Seite 7 bis 18) fin­den sich Be­rich­te aus Ar­gen­ti­ni­en, den USA, Is­ra­el und der SBZ, die zei­gen, dass das Leben und Ar­bei­ten auf dem Land zu­min­dest für ei­ni­ge als Ideal fort­be­stand. In dem Rund­brief von 1949 sind zudem die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Ent­wick­lun­gen im Nach­kriegs­deutsch­land be­son­ders prä­sent. Wie ei­ni­ge an­de­re deut­sche Jü­din­nen und Juden un­ter­nahm auch Bondy in den Nach­kriegs­jah­ren eine Reise nach Deutsch­land, um sich ein Bild über die Lage des Lan­des zu ver­schaf­fen. Vor allem die po­li­ti­sche Stim­mung in der Be­völ­ke­rung – ex­pli­zit mit Blick auf fort­dau­ern­de und wie­der­erstar­ken­de na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche und an­ti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen –, der Wie­der­auf­bau, das Pro­blem der so­ge­nann­ten Dis­pla­ced Per­sons und die Mög­lich­kei­ten einer jü­di­schen Zu­kunft in Deutsch­land in­ter­es­sier­ten ihn.

Im Rund­brief fin­det sich nur eine ge­kürz­te Ver­si­on des aus­führ­li­chen Be­richts zu Bon­dys Reise (siehe Seite 19). Der an­schlie­ßen­de Brief von Ernst Cra­mer hin­ge­gen fiel deut­lich län­ger aus und griff ähn­li­che Ten­den­zen auf. Beide zeig­ten sich be­sorgt um die po­li­ti­sche Lage (West-)Deutsch­lands an­ge­sichts der nur in Tei­len der Be­völ­ke­rung fruch­ten­den De­mo­kra­ti­sie­rungs­be­stre­bun­gen der Al­li­ier­ten und eines wei­ter­hin vor­han­de­nen An­ti­se­mi­tis­mus. Gleich­falls waren sie ver­sucht, po­si­ti­ve Ent­wick­lun­gen in­ner­halb der deut­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft her­vor­zu­he­ben. Ge­ra­de bei Cra­mer, der da­mals be­reits in Mün­chen lebte, mag das auch in sei­ner Ent­schei­dung be­grün­det ge­le­gen haben, als einer von we­ni­gen dau­er­haft nach Deutsch­land zu­rück­zu­keh­ren.

Das unter den ehe­ma­li­gen ,Bree­se­nern‘ sehr plu­ral ver­stan­de­ne ,Jüdisch-​Sein‘ hin­ge­gen wurde in dem Rund­brief von 1949 vor allem ent­lang der Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem An­ti­se­mi­tis­mus der nicht-​jüdischen Mehr­heits­ge­sell­schaf­ten sowie der Staats­grün­dung Is­ra­els und dem is­rae­li­schen Un­ab­hän­gig­keits­krieg von 1947/49 ver­han­delt. Im Ge­gen­satz zu den meis­ten an­de­ren jü­di­schen Aus­wan­de­rungs­lehr­gü­tern war Groß-​Breesen nicht zio­nis­tisch ge­prägt. Nur wenig Ehe­ma­li­ge emi­grier­ten nach Pa­läs­ti­na/Is­ra­el. Trotz­dem nah­men die Be­rich­te aus den dor­ti­gen Kib­bu­zim und über den Krieg der ara­bi­schen Nach­bar­län­der gegen den neu­ge­grün­de­ten jü­di­schen Staat re­la­tiv viele Sei­ten in dem Rund­schrei­ben ein. Das mag ei­ner­seits im ak­tu­el­len zeit­his­to­ri­schen Kon­text be­grün­det lie­gen, ver­weist aber an­de­rer­seits auch auf die er­star­ken­de Be­deu­tung Is­ra­els für die jü­di­sche Dia­spo­ra. Dabei waren die Hal­tun­gen dies­be­züg­lich unter den ,Bree­se­nern‘ nicht ein­heit­lich, auch wenn nur An­ne­lie­se Loe­ser (?–?) aus den USA zur Staats­grün­dung eine deut­lich ab­leh­nen­de Stel­lung bezog: „The Pa­les­ti­ne ques­ti­on“, so Loe­ser auf Eng­lisch, „also isn’t very hope­ful, be­si­des the fact that I never will and never did be­lie­ve in the ul­ti­ma­te aim of the Zio­nist mo­vement. […] Be­si­des even in Ger­ma­ny we fought for not being a Jew by na­tio­na­li­ty, I do it even worse now [sic].“ An­ne­lie­se Loe­ser, De­ca­tur, Mich. Ja­nuary 1949, in: Rund­brief (1949), S. 13f., hier S. 13.

Eva Lan­de­cker (1923–1998) hin­ge­gen hatte sich im chi­le­ni­schen Exil einer zio­nis­ti­schen Ju­gend­grup­pe an­ge­schlos­sen und sich noch vor der Staats­grün­dung für die Alija ent­schie­den. Für Rudi und Henny Weiss be­deu­te­te Is­ra­el einen mög­li­chen Zu­fluchts­ort für die Zu­kunft, soll­te ihnen die Aus­wan­de­rung aus Deutsch­land ge­lin­gen. An­de­re wie Pitt [Peter] Hanff (?–?) hoff­ten 1949 wie­der­um dar­auf, dass Ver­wand­te, die im da­ma­li­gen bri­ti­schen Man­dats­ge­biet Zu­flucht vor der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung ge­fun­den hat­ten, den jü­di­schen Staat mit Blick auf ihre ei­ge­ne Si­cher­heit bald wie­der ver­las­sen wür­den.

Auslassungen


Wie die Her­aus­ge­ben­den frü­he­rer Rund­brie­fe re­di­gier­te Ernst Cra­mer als Ver­ant­wort­li­cher für diese Aus­ga­be den Rund­brief von April 1949. Brie­fe wur­den nur zum Teil ab­ge­druckt, was er an man­cher Stel­le mit drei Punk­ten („…“) mar­kier­te. Un­klar bleibt, wel­che Text­pas­sa­gen nicht auf­ge­nom­men wur­den und aus wel­chem Grund dies ge­schah. Die kur­zen Mel­dun­gen am Ende der Samm­lung ver­wei­sen zudem dar­auf, dass ei­ni­ge Zu­schrif­ten nur in ex­zer­pier­ter Form in dem Rund­brief Er­wäh­nung fan­den. Ver­mu­ten lässt sich, dass wei­te­re Brie­fe über­haupt nicht in die Zu­sam­men­stel­lung auf­ge­nom­men wur­den. Wel­che Kri­te­ri­en der vor­ge­nom­me­nen Aus­wahl je­doch zu Grun­de lagen, bleibt offen. Eben­so bie­tet die Je­sus­dar­stel­lung auf dem Ti­tel­blatt Raum für In­ter­pre­ta­tio­nen. Im Ge­gen­satz zur Ti­tel­ge­stal­tung frü­he­rer Rund­brie­fe er­gibt sie sich nicht aus dem In­halt des Schrei­bens, auch wird an kei­ner Stel­le im Text auf die­ses Bild Bezug ge­nom­men.

Dar­über hin­aus kor­re­spon­dier­te die Zahl an Per­so­nen, die in der Adress­lis­te am Ende des Rund­briefs auf­tau­chen, nicht mit jener, deren Bei­trä­ge ver­öf­fent­licht wur­den. Die vor­ge­nom­me­ne Aus­wahl be­stimm­te dem­nach das Nar­ra­tiv des Rund­brie­fes. Die zu­grun­de­lie­gen­de Frage nach der Be­deu­tung der Groß-​Breesener Ge­mein­schaft in der deutsch-​jüdischen Dia­spo­ra dis­ku­tier­ten folg­lich nur jene, die sich auf die eine oder an­de­re Art über­haupt noch zu­ge­hö­rig fühl­ten. Eine Aus­sa­ge, wer sich aus wel­chen Grün­den nicht wei­ter an der Grup­pen­kor­re­spon­denz be­tei­lig­te, lässt sich an­hand die­ser Quel­le daher nicht tref­fen. Erst 1954, also sechs Jahre spä­ter, er­schien der nächs­te Rund­brief. Wei­te­re Aus­ga­ben folg­ten bis 2003 in ähn­lich gro­ßen zeit­li­chen Ab­stän­den. Wenn­gleich an dem For­mat der Rund­brie­fe fest­ge­hal­ten wurde, so hatte sich doch das Be­dürf­nis, re­gel­mä­ßi­ger über die­ses Me­di­um in Aus­tausch zu tre­ten, über die Jahr­zehn­te ver­min­dert.

Die Rundbriefe als Medium eines transnationalen Austausches


Trotz oder ge­ra­de wegen der ge­führ­ten Aus­ein­an­der­set­zung um die wei­te­re Be­deu­tung Groß-​Breesens und sei­ner ,Säu­len‘ als Grund­fes­ten zu­künf­ti­ger dia­spo­ri­scher jü­di­scher Exis­tenz fun­gier­te das For­mat der Rund­brie­fe als ge­mein­sa­mer Be­zugs­punkt einer spezifisch-​transnational emp­fun­de­nen Ge­mein­schaft. Die gro­ßen Dia­spora­zen­tren in den USA, Is­ra­el oder Süd­ame­ri­ka wur­den von den ein­zel­nen Be­trof­fe­nen dabei als deut­lich va­ria­ble Pole wahr­ge­nom­men. Zumal – so wird in dem 18. Rund­brief von 1949 deut­lich – ei­ni­ge der Bei­tra­gen­den noch nicht dau­er­haft an einem Ort ihrer Wahl an­ge­kom­men waren, son­dern sich wei­ter­hin in Be­we­gung, Um­ori­en­tie­rung und Neu­an­fän­gen be­fan­den. Be­dingt durch die Zer­streu­ung um­spann­te das Netz­werk der ehe­ma­li­gen Aus­zu­bil­den­den einen trans­na­tio­na­len Raum, in dem sie über kul­tu­rel­le, po­li­ti­sche und na­tio­na­le Gren­zen hin­weg agier­ten.

Die ein­zel­nen Bei­trä­ge ver­mit­teln vor­ran­gig den Le­bens­all­tag der ehe­ma­li­gen ,Groß-​Breesener‘ in den ver­schie­dens­ten Län­dern, dabei wer­den zu­gleich in­ter­na­tio­na­le Er­eig­nis­se oder trans­na­tio­nal agie­ren­de Or­ga­ni­sa­tio­nen und deren Han­deln the­ma­ti­siert. Somit bie­ten die Brie­fe aus aller Welt – auch heute noch – ihren Leser:innen einen per­sön­li­chen Zu­gang zu den un­ter­schied­lichs­ten Le­bens­rea­li­tä­ten der deutsch-​jüdischen Dia­spo­ra und ste­hen für die Fort­set­zung eines spe­zi­fisch deut­schen Erbes der Ju­gend­be­we­gung bis ins hohe Alter.

Auswahlbiografie


Werner T. Angress, „Auswandererlehrgut Gross-Breesen“, in: LBI Year Book 10 (1965), S. 168-187.
David Jünger, „Farewell to the German-Jewish Past. Travelogs of Jewish Intellectuals Visiting Post-War Germany, 1945–1950”, in: Stefanie Fischer/Nathanael Riemer/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Juden und Nichtjuden nach der Shoah. Begegnungen in Deutschland, Berlin/Boston 2019, S. 63-75.
Wiebke Zeil, „Zwischen landwirtschaftlicher Ausbildung und geistiger Gemeinschaft: Das jüdische Auswandererlehrgut Groß-Breesen“, in: Knut Bergbauer/Nora M. Kissling/Beate Lehmann/Ulrike Pilarczyk/Ofer Ashkenazi (Hg.), Jüdische Jugend im Übergang – Jewish Youth in Transit. Selbstverständnis und Ideen in Zeiten des Wandels, Berlin/Boston 2024, S. 209-233.

Weiterführende Inhalte


Wieb­ke Zeil, „Jü­di­sches Aus­wan­dererlehr­gut Groß-​Breesen“, in: Hachs­cha­ra als Er­in­ne­rungs­ort, 2022: Jü­di­sches Aus­wan­dererlehr­gut Groß-​Breesen | Hachs­cha­ra als Er­in­ne­rungs­ort

Zur Idee der Hachs­cha­ra und den ver­schie­de­nen Aus­bil­dungs­or­ten in Deutsch­land und Eu­ro­pa siehe das di­gi­ta­le Pro­jekt: Hachs­cha­ra als Er­in­ne­rungs­ort

Stones from the Soil, Do­ku­men­tar­film von Mi­cha­el Ca­plan über das Schick­sal sei­nes Va­ters, Ru­dolph Ca­plan, und das Aus­wan­de­rungs­lehr­gut Groß-​Breesen, 2005: https://www.you­tube.com/watch?v=wr7w5RcE0m8

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Zur Autorin

Wiebke Zeil studierte Geschichte und Europäische Ethnologie (B.A.) sowie Moderne Europäische Geschichte (M.A.) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Oktober 2021 promoviert sie dort am Institut für Geschichtswissenschaften zum Thema Das jüdische Auswandererlehrgut Groß-Breesen als überzeitlicher Referenzpunkt deutsch-jüdischer Lebenswege im 20. Jahrhundert. Seit April 2022 ist sie Promotionsstipendiatin des Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerks und assoziierte Doktorandin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr „Zwischen landwirtschaftlicher Ausbildung und geistiger Gemeinschaft. Das jüdische Auswandererlehrgut Groß-Breesen“, in: Knut Bergbauer u. a. (Hg.), Jüdische Jugend im Übergang – Jewish Youth in Transit. Selbstverständnis und Ideen in Zeiten des Wandels, Berlin 2024, S. 209-233.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Wiebke Zeil, Gross-Breesen Letter 18, April 49 – Einblicke in die Korrespondenzen eines transnationalen Netzwerkes, in: Geschichte[n] der deutsch-jüdischen Diaspora, 08.05.2025. <https://diaspora.juedische-geschichte-online.net/beitrag/gjd:article-14> [17.06.2025].

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